Lesereihe 2017 

Über Menschen und ihre Machtlosigkeit, ohnmächtig der psychischen und physischen Gewalt ausgeliefert zu sein.

>>Da sah ich sie: Hunderte von Fleischstücken hingen an langen Haken. Blut rann von den frischen Stücken herunter. Ich lief an den Fleischstücken vorbei und fand keinen Ausgang. Mein weißes Kleid wurde ganz blutig.<<

Die Vegetarierin

Han Kang

Der Ottobeurer Literaturkreis las zum ersten Mal 2017. Im Januar starteten wir die Lesereihe 'Macht und Machtmissbrauch. Gewalt gegenüber Frauen'. Lange bevor die #metoo Debatte ausgelöst wurde. 

'Die 'Vegetarierin' von Han Kang, 'machte den Anfang. Dieser Roman war der Auftakt eines abwechslungsreichen und disputablen Literaturprogramms. Der Beginn eines intensiven Meinungsaustausches in einer weltoffenen Runde.

Lektürennotizen Horst G. Flämig. Moderation.

Selbstverzehr

 >>Ich hatte einen Traum<< bekundet Yong-Hye, die laut ihrem Ehemann an Durchschnittlichkeit kaum zu übertreffen ist – bis sie nach diesem Traum beschließt, kein Fleisch mehr zu essen.

„Es ist mein Herz, das schmerzt, und in meiner Magengrube spüre ich einen undefinierbaren Druck. Er ist immer da. Was sich dort ansammelt und festgesetzt hat, das sind Schreie und Gebrüll. Und die kommen vom Fleisch. All die Seelen sind dort eingeklemmt. Blut und Fleisch werden verdaut, die Nährstoffe überall im Körper verteilt. Der Rest wird ausgeschieden. Aber die Seelen klammern sich hartnäckig in meinem Magen fest. Ich möchte einmal, ein einziges Mal einen großen Schrei ausstoßen können."

Zerfall und Befreiung

In den Träumen machen sich Verlorenheit, Einsamkeit und Angst breit. Bilder von blutigen Fleischstücken, die an Bambusstangen hängen, ihr weißes Kleid beflecken, Mund und Gaumen mit dem Geschmack von Blut benetzen. Von da an nimmt Yong-Hye kein Fleisch mehr zu sich. Selbst der Geruch von Fleisch an ihrem Mann widert sie an. Die bis dahin ohnehin leidenschaftslose Ehe zerfällt zunehmend. Sie wird schließlich von ihrem chauvinistischen Mann vergewaltigt. Die nur vorgeblich funktionale Beziehung zu ihren Eltern und ihrem Bruder, das ebenso trügerische Eheglück ihrer Schwester und letztendlich sie selbst zerbrechen. In drei Kapiteln zeigt der Roman den Zerfall und gleichzeitig die Befreiung von Yong-Hye auf. In wechselnden Perspektiven wird ihr Kampf zunächst aus dem Blickwinkel von Yong-Hyes Ehemann, anschließend aus der Perspektive ihres Schwagers und im abschließenden Kapitel aus der Sicht ihrer Schwester dargestellt. Mit dem Moment, in dem Yong-Hye in der Nacht den Kühlschrank öffnet und die Gefrierbeutel mit Fonduefleisch, Schweinebauch, Rinderfilets, Tintenfisch und Aal Stück für Stück in einem Müllbeutel entsorgt, beginnt die Veränderung – in ihrem Leben und in dem Leben ihres Mannes und ihrer Familie.

Die drei Erzählinstanzen schildern die sich verändernden Positionen der Protagonistin, aber auch die durch sie ausgelösten Konflikte, Ängste, Hemmnisse und Begehrlichkeiten der übrigen Hauptpersonen.

In einem Land, wie Südkorea, in welchem Fleischgerichte einen hohen Stellenwert auf dem Speiseplan haben, liegt es nahe zu vermuten, dass der gänzliche Verzicht auf Fleisch als subversiver Akt angesehen wird.

Kampf gegen die Normen eines patriarchalischen Systems.

In der Tat erleben wir einen Akt der Rebellion, einen Ausbruch aus gesellschaftlichen Strukturen, einen Kampf gegen die Normen einer patriarchalischen Gesellschaft.

Die bis dahin unscheinbare Yong-Hye sprengt die einengenden Konventionen durch ihr Vorhaben, sich zu entmenschlichen. Sie verweigert sich zunehmend allen Konventionen, Verhaltensnormen und Kleiderordnungen. Sie stellt immer mehr die Nahrungsaufnahme ein, verzichtet immer mehr auf Schlaf, entledigt sich der einengenden Kleidung. Angetrieben von der Vision ein mit der Erde verschmolzener Baum zu sein, entwickelt sie sich zu einem Wesen, das nicht mehr als Sonne und Wasser benötigt. Wir werden Zeuge einer beklemmenden Metamorphose.

Nur einmal vermittelt Yong-Hue dem Leser das Gefühl, keine Angst mehr zu haben, geradezu glücklich zu sein. In dem Moment, als sie mit wunderschönen Blumen übermalt zusammen mit ihrem Schwager, der ebenfalls mit Blumen übertüncht ist, zu einem Kunstwerk zusammenschmolz und sie mit ihm schlief. Hier sind zwei Menschen zusammen gekommen, die außerhalb der Konventionen einen Weg zur Glückseligkeit und zu einem Hochgefühl erlangt haben. Und sie sagt: Nun habe ich keine Angst mehr. Das macht mir keine Angst mehr.

Aber die infernalische Vorahnung, dass der Weg Yong-Hues unaufhaltsam  in die Selbstzerstörung münden wird, lässt den Leser nicht los.

Diese Befürchtung wird Realität, als ihre Schwester sie in die Psychiatrie einweisen lässt. Das Paradoxe ist, dass die Person, die glaubt, eine nachdrückliche Fürsorge walten zu lassen, beim Anblick ihrer nackten bemalten Schwester und ihres bemalten Mannes die Quintessenz zieht, beide müssen irre sein. Ihr anerzogenes Denkmuster lässt keinen anderen Schluss zu. Ihre Schwester ist augenscheinlich krank. Hilfe kann sie nur in einer Klinik bekommen.

Der Vater schlägt Yong-Hye und drückt ihr gewaltsam Fleischstücke in den Mund.

Der gesamten Erzählung liegt eine beklemmende Ruhe, Unbedarftheit und Schlichtheit zu Grunde, die auch durch die Unkompliziertheit der Sprache bekräftigt werden. Immer wieder muss Yong-Hye auf ihrem Weg, ein gewaltfreies Leben führen zu wollen, Gewalt erleiden. Ihr Vater schlägt sie und drückt ihr gewaltsam Fleischstücke in den Mund. In der Psychiatrie wird sie zwangsernährt, bis ihr Widerstand so groß wird, dass aus der Nasensonde und aus Yong-Hyes Mund Blut gegen das Gesicht der Hilfspflegerin, die den Schlauch hält, spritzt.

Sie will nicht mehr Teil dieser Menschheit sein, sie will nicht mehr angepasst sein, sie will nicht mehr den Regeln und Normen gehorchen. Sie will nicht länger als Körper existieren und funktionieren. Sie entscheidet sich für die Funktionsaufgabe. Ihre Freiheit erlangt sie im Tod.

Fazit: 

Warum die Notrufe der Hilfesuchenden nicht wahrgenommen werden.

Ein surrealer und wundersamer Weckruf, den Konformismus zu überdenken. Eine Mahnung zu prüfen, stet sagen zu wollen, etwas sein zu müssen. Ein Memento, über ein deprimierendes gesellschaftliches Phänomen zu reflektieren, warum die Notrufe der Hilfesuchenden nicht wahrgenommen werden und die eigenen Angelegenheiten, seien sie auch noch so lapidar, in den Vordergrund rücken und eine höhere Wichtigkeit besitzen.

Der Roman entstand in einem Staat mit einem vermeintlich erstklassigen Schulsystem, einer exzellenten Infrastruktur, einem Mobilfunknetz der fünften Generation, während in Deutschland die Netzbetreiber die dritte Generation anbieten, und erfolgreichen Weltkonzernen, wie Samsung oder Hyundai. In einem Staat, in dem Kinder bis in die Nacht auswendig lernen, in dem die weltweit höchste Selbstmordrate unter Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen ist, in dem die niedrigste Geburtenrate und die höchste Arbeitszeit herrschen. In einem Staat, in dem ein zehnjähriger Junge kurz vor seinem Suizid in sein Tagebuch schrieb, dass er an zwei Tagen über zwanzig Stunden lernen müsse, ohne dass seine Noten besser würden… und er frei sein möchte wie ein Fisch im Wasser.

Han Kang

Han Kang ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, seitdem erschienen zahlreiche Romane. seit sie für "Die Vegetarierin" gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize erhielt, haben ihre Bücher auch international großen Erfolg. 

Foto: © Baek Dahum