Sprachkunst und Gewalt
DESPOTEN DICHTEN
Warum haben ausgerechnet Gewaltherrscher oft eine besondere poetische Ader?
MUSSOLINI | STALIN | HITLER | MAO | KIM IL-SUNG | GADDAFI | SADDAM HUSSAIN | NYÝAZOW | KARADZIC
" Was passiert , wenn Despoten dichten? Dass tyrannische Staatsführung oft mit exzessiver Sprachlust verbunden ist, ist kein Zufall - verspricht doch schon die Verschmelzung von künstlerischer und politischer Sphäre einen einzigen, unumschränkten Herrschaftsanspruch. Mehr noch: Diktatoren sind irreguläre Herrscher, die sich weder von einer namhaften genealogischen Linie herleiten noch aus den Eliten des Landes rekrutieren. Die politische Ordnung, die sie auf ihre Person hin ausrichten, müssen sie selbst erst schöpferisch erzeugen, ihre eigene Welt erfinden. So können sich Despoten als Autoren eines gigantischen Kunstwerks fühlen, das rein aus ihrem Inneren entstanden ist. "
ALBRECHT KOSCHORKE (Hrsg.)
Albrecht Koschorke ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt frühe Neuzeit bis Mitte 18. Jahrhundert an der Universität Konstanz. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Kulturtheorie.
KONSTANTIN KAMINSKIJ
Konstantin Kaminskij ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Kulturwissenschaften und Humangeographie in Osteuropa, Russland und Zentralasien.
In der Erzählung „Die Flucht in die Hölle“ liest man über die Hartherzigkeit der Masse, die schlimmer sei als jeder Tyrann. Die Masse ist hier „ein gewaltiger Strom“, der das Schreien des Einzelnen nicht hört „und ihm die Hand nicht entgegenstreckt, wenn er ihn anfleht und um Hilfe bittet“. Der Autor dieser Zeilen heißt Muammar al-Gaddafi.
Zeilen wie „Die Stadt verbrennt wie ein Klumpen Weihrauch“ aus Karadzic’ Gedicht „Sarajewo“ haben schon vor dessen Festnahme einen amerikanischen Juristen veranlasst, dafür zu plädieren, Karadzic’ Gedichte als Beweismittel für Völkermordsintentionen zu berücksichtigen. „Sarajewo“ wurde im Jahr 1971 veröffentlicht.
Gedicht von Josef Stalin:
MORGEN
„Eine Rose war erblüht
Und reckte sich das Veilchen zu berühren
Die Lilie erwachte
Und neigte den Kopf in der Brise
Hoch in den Wolken die Lerche sang
Ein zwitschernd Loblied
Während die frohe Nachtigall
Mit sanfter Stimme sagte:
Sei voll von Blüten, o liebliches Land
Frohlocke, Staat der Iberier
Und du o Georgier, durch Lernen
Macht deiner Heimat Freude“
Despoten dichten
Den Hauptteil des Bandes bilden Studien zu dichtenden Despoten des 20. Jahrhunderts. Auf einen einleitenden Essay über Nero folgen Beiträge zu Benito Mussolini, Josef Stalin, Adolf Hitler, Mao Zedong, Kim Il-sung, Muammar al-Gaddafi, Saddam Hussein, Saparmyrat Nyýazow und ein Essay von Slavoj Žižek über Radovan Karadžic. Den Abschluss bildet eine Betrachtung von Boyan Manchev über den Zusammenhang von Romantik, Avantgarde und tyrannischer Poesie.